30 Jahre Pingelhof - Abenteuer bäuerliches Leben um 1600
Inszenierte Führungen, Schulstunden anno 1900, großer Erlebnisbereich mit historischen landwirtschaftlichen Geräten
Etwa dreißig Kilometer südöstlich von Schwerin beginnt eine Zeitreise – zurück in das 16. Jahrhundert, als Alt Damerow noch ein kleines Rundlingsdorf mit zahlreichen Gehöften war. Zurück in eine Epoche, in der schwere körperliche Arbeit auf dem Feld, an Haus und Hof den Alltag ausmachte. Ein karges, bäuerliches Leben in düsteren, engen Stuben ohne fließendes Wasser, Elektrizität, Spül- und Waschmaschinen. Dafür mit Waschzuber, Brunnen, Holzofen und Rauchschwaden, die sich auf immer und ewig in das Gebälk eingebrannt haben.
Aber auch mit viel Liebe, Lust und Leben in den alten Dielen. Hier spielte die Musik des gesellschaftlichen Lebens – mit Wein, Weib, Gesang und Tanz auf Lehm über dicken, knarrende Eichenbohlen, wenn das Korn eingefahren war. Heute kaum mehr vorstellbar, wie viele Stunden, Tage, Nächte es mit Sense und Pferdegespannen über die Felder ging. Umso nachvollziehbarer, wie ausgelassen gefeiert wurde, wie wertvoll, gar existenzsichernd und elementar sich eine gute Ernte für unsere Vorfahren angefühlt haben muss.
Schon damals trugen viele der ansässigen Bauern den Namen Pingel, pochten nach dem Dreißigjährigen Krieg auf ihr althergebrachtes, geerbtes Recht, die Geschicke des Dorfes als Schulzenfamilie zu leiten. Acht Generationen lebten auf dem Pingelhof, der dieses Jahr seinen 30. Geburtstag als agrarhistorisches Freilichtmuseum feiert. Eröffnet am 30. September 1989, gilt er als letztes Museum der damaligen DDR. Dass man den Hof, nachdem mit Erna Pingel 1984 die letzte Bewohnerin verstorben war, nicht einfach seinem Schicksal überließ, ist vor allem Hermann Freude zu verdanken. Der damalige Domsühler LPG-Vorsitzende hatte die Idee, ihn als Museumsanlage zu erhalten. „Nun kommt Freude auf“ ist seitdem ein beliebtes Zitat, das fällt, wenn Weggefährten ihn treffen. Der in Anlehnung an die Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 auch als „Wunder von Domsühl“ titulierte Pingelhof zählt heute zu den ältesten und schönsten bäuerlichen Anlagen Mecklenburgs. Haus und Hof sind original erhalten, aus allen Ritzen, Ecken und Enden schlägt einem der Geruch aus 400 Jahren Geschichte entgegen. Die Spuren der Familie Pingel lassen sich am besten bei Führungen durch das Bauernhaus und über das Gelände verfolgen.
„Pingels Erbe“ wird auf der Bühne lebendig - von Frau Mutter, Herrn Vater und berührenden Anekdoten
„Chantalle, mein Liebes“, tönt es mit flötender Stimme durch die dunkle, rustikale Diele des Pingelhofes. „Komm, wir gehen zusammen shoppen. Du könntest doch wirklich mal wieder ein neues Paar Schuhe gebrauchen, oder?“ Mit gespitzten Ohren und gespannter Miene verfolgen die Besucher in gemütlichen roten Sesseln, übrigens ursprünglich beim „König der Löwen“ im Einsatz, was auf der kleinen Bühne vor ihnen passiert. Museumsleiterin Kerstin Zimmermann überspitzt bewusst die imaginäre Begegnung mit einem verwöhnten Mädchen im rosa Rüschenkleidchen, das mit dem kargen, bäuerlichen Leben im 17. Jahrhundert so gar nichts gemein hat. Einprägsam und bildlich erzählt sie aus einer Zeit, in der der Rauch eines schornsteinlosen Ofens noch durch die alten, zugigen Gemäuer waberte. Springt zurück in die Gegenwart und nimmt die Welt der in Watte gepackten, auf Rosen gebetteten „Göre“ von heute aufs Korn.
„Geschichte wird am besten durch Geschichten lebendig“ ist sie überzeugt und schuf so ihr eigenes, persönliches Werk zur Historie des heutigen Agrarmuseums. Ein ganz besonderes sollte es sein, eines, „das unsere Gäste gleichsam unterhält und so berührt, dass ihnen auch mal das Lachen im Halse stecken bleibt.“
Dabei war es eher ein Zufall, dass sie, die schon länger Führungen durch das Ludwigsluster Schloss gemacht hatte, 2007 mitten in den Vorbereitungen zum 400jährigen Jubiläum zum Pingelhof stieß, weil ihr Vorgänger einen Unfall hatte. Geblieben ist sie bis heute, hat einen erheblichen Anteil daran, dass es regelmäßige Veranstaltungen wie Schlachte- und Erntefeste gibt. Setzte sich für das neue Klassenzimmer ein, in dem Kinder und Erwachsene gleichermaßen eine Schulstunde anno 1900 mitmachen können. Oder besorgte Butterfässer, so dass Gruppen erleben können, wie viel Arbeit es bedeutet, Butter selber herzustellen. Bei der Gelegenheit lüftet sie auch gerne das Geheimnis, wie lange es früher dauerte, ohne Wasserkocher und E-Herd eine Tasse Tee und ein Rührei zu kochen.
Während ihrer Hofführungen blickt sie immer wieder in die ungläubigen Gesichter ihrer Gäste, die sich kaum mehr vorstellen können, dass Kinder ihre Eltern einst mit „Frau Mutter“ und „Herr Vater“ ansprachen und wie jung sie schon in die alltägliche Arbeit in Haus, Hof und Stall eingebunden wurden. Benötigten die Kleinen, die normalerweise barfuß unterwegs waren, doch mal Schuhe, wurde einfach so lange Stroh um die Füße gewickelt, bis sie in die Holzschuhe des Vaters oder Opas passten. Noch eine ganze Menge mehr Anekdoten wie diese fesseln Besucher jedes Mal aufs Neue.
Bauersfamilie, Knechte, Mägde, das Vieh, die Feldfrüchte und allerlei Gerätschaften – alle hausten in den kleinen, dunklen Stuben unter einem Dach. „Duck di“ prangt über jeder der für heutige Verhältnisse niedrigen Türen. „Achtung ducken“ sagt Kerstin Zimmermann, wann immer sie mit ihren Gästen durch das alte Bauernhaus spaziert, immer darauf bedacht, dass keiner sich den Kopf stößt. Die alte Diele verband alle Räume miteinander, in ihr wurde gefeiert oder im Winter Getreide gedroschen.
Familie Pingels Historie: Chim Pingel überlebt den Schwedentrunk nicht, „Grotjohann“ hatte Bärenkräfte
Erheiterte Mienen erntet Kerstin Zimmermann, wenn sie die überlieferten und belegten Anekdoten zur Familie Pingel preisgibt: In Alt Damerow sind Träger des Namens Pingel seit 1518 nachweisbar. Man vermutet, dass die Pingels um 1500 aus Westfalen in die Gegend um Parchim eingewandert sind. Im westfälischen Sprachgebrauch werden ein kleinlicher Mensch oder eine quenglige Frau noch heute als pingelig bezeichnet. Als bekanntester Vorfahre gilt der um 1575 geborene Chim Pingel, der während des Dreißigjährigen Krieges mit dem Schwedentrunk ermordet wurde. Sein Sohn Cheel überlebte die Tortur und baute das Dorf nach dem Krieg wieder auf. Er starb 1702 im Alter von 94 Jahren und hatte 94 Nachfahren: 10 Kinder, 67 Enkel und 17 Urenkel.
Innerhalb der Pingelfamilie erreichte eine Mehrzahl der damals üblichen vielen Kinder das Erwachsenenalter und verbreitete sich im Umland. Es gab es immer wieder Probleme, Familienmitglieder, die oftmals auch gleiche Vornamen trugen, auseinanderzuhalten. So bekamen viele Pingels einen charakteristischen Spitznamen verpasst: „Ringjohann“ hatte eine Vorliebe für Ringe, „Hautjohann“ erkannte man an seinem Hut und „Grotjohann“ war über zwei Meter groß. Er konnte unter jedem Arm einen 100 Kilo-Sack tragen oder soll mit seinen Bärenkräften auch den einen oder anderen Pferdewagen befreit haben, wenn dieser sich festgefahren hatte. Bis zu seinem Tod 1939 schätzten ihn die Menschen ebenso aufgrund seines Wissens über die Natur und nannten ihn daher „Späukenkieker“ (Hellseher). Sein Grab ist noch heute auf dem Friedhof an der kleinen Kirche Alt Damerow zu sehen.
Weitläufiges Außengelände mit uralten Bäumen, alter Mühle, Sägegatter, Schmiede und historischen landwirtschaftlichen Geräten
Auf dem Außengelände fällt der schöne alte Baumbestand ins Auge. Heute genießen Gäste hier Kaffee und Kuchen, früher wurden Bäume vor allem als Baumaterial angepflanzt. So sind Bauernhaus und Scheune weitgehend aus Eichen- und Eschenholz gebaut. Eichen dienten auf den Höfen auch als Blitzschutz. Der Backofen, dessen Überreste ein größerer Lehmhaufen unter Holunderbüschen und Haselnusssträuchern war, konnte rekonstruiert werden: Ursprünglich nur durch Laubwerk geschützt, besitzt er nun ein mit Biberschwanzziegeln eingedecktes Satteldach. Dann und wann kommt er bei Veranstaltungen zum Einsatz und backt leckeres, knuspriges Brot. Daneben befindet sich ein kleiner Hühner- und Gänsestall aus dem 19. Jahrhundert. Im Kräutergarten, der wie früher direkt an das Bauernhaus angrenzt, steht auch die große schöne, aus Feldsteinen gemauerte Kräuterspirale. Dort sind Reiben und Riechen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.
Zum Anwesen gehört eine große Sammlung alter landwirtschaftlicher Geräte, darunter Kartoffelpflanzmaschinen oder Hungerharken, mit denen, hinter ein Pferd gespannt, jeder noch so kleine Heu- oder Getreidehalm vom Feld geholt werden konnte. Hinter den Toren der Remise verbergen sich Oldtimer-Trecker wie ein Lanz Bulldog oder ein Pionier von 1950, Dreschkästen und Getreidemühlen. Rätselstationen, ein Barfußpfad und ein kleiner Spielplatz sind vor allem für Familien ein großer Spaß. Ein zum Tisch umfunktionierter 180 Jahre alter Baumstamm vermittelt auf ganz eigene Weise ein Gefühl für das Zeitgeschehen.
Ebenso bei Veranstaltungen werden die alte Slater Mühle von 1900, ein altes Sägegatter von 1928 sowie eine alte Schmiede zum Leben erweckt. Wenn man es besonders laut auf dem Gelände klappern und rattern hört, zeigt die etwa 115 Jahre benzolbetriebene Antriebsmaschine, dass sie noch immer einen Dreschkasten in Bewegung setzen kann. Die durch Daimler Benz in Marienfelde bei Berlin gefertigte Maschine wurde ursprünglich noch für den Pingelhof angeschafft, um in der Scheune Getreide zu dreschen.
Ohne fleißige, ehrenamtliche Helfer geht gar nichts – 20 Jahre Förderverein Pingelhof, 15 Jahre plattdeutsches Theater mit der Pingelhof Späldeel
Eines kann man gar nicht lauter sagen: Ohne die große Schar an ehrenamtlichen Helfern könnte die Gemeinde Domsühl ihren bzw. unseren geliebten Pingelhof gar nicht so großartig am Leben erhalten. Wie die fleißigen Bienen fangen die über 30 Mitglieder des Pingelhof Fördervereins immer schon im Januar an, die Anlage auf ihre nächste Saison von April bis Oktober vorzubereiten. Beim Frühjahrsputz wird überall gefegt, gesaugt, gewienert, der Garten hergerichtet, die Maschinen gewartet und Zäune ausgebessert. Und das schon seit 20 Jahren – womit in diesem Jahr ein weiteres rundes Jubiläum im Pingelhof ansteht.
Stellvertretend stellen wir Familie Schwarz aus Parchim vor: Carsten Schwarz hatte schon dienstlich den Aufbau des Museums Pingelhof federführend begleitend und kümmert sich als gelernter Landmaschinen- und Traktorenschlosser in seinem Ruhestand nun mit Herzblut um den landwirtschaftlichen Fuhrpark. Sein „Lieblingsspielzeug“ ist eindeutig die alte Benz-Antriebsmaschine, die er gerne immer wieder in Gang setzt und zum Beispiel an eine Getreidemühle anschließt. Stolz und mit leuchtenden Augen erzählt er Besuchern, wie die Zylinder geputzt werden müssen, wo geölt und an welchen Schrauben gedreht werden muss, damit alles weiterhin geschmeidig rattert und rumpelt. So langsam macht er sich Gedanken darüber, wer seine Schatztruhe an historischen Gerätschaften unter seine Fittiche nehmen könnte und als Nachfolger/in genauso leidenschaftlich hegt und pflegt.
Während er sich mit der Technik beschäftigt, hat sich seine Frau Karin Schwarz des Gartens angenommen. Seit über zehn Jahren kommt sie durchschnittlich zweimal pro Woche zum Pingelhof, um den Kräutergarten zu harken, zu gießen, neu zu bepflanzen und die gesamte Grünanlage in Schuss zu halten.
Auch die plattdeutsche Theatergruppe „Pingelhof Späldeel“ ist aus einer ehrenamtlichen Initiative und mit ganz viel Herzblut entstanden. Rolf Holst, Mitte der 90er Jahre erster hauptamtlicher Museumsführer, war bzw. ist wie kein anderer Kenner des ländlichen Lebens und der plattdeutschen Sprache. Aufgrund seines umfassenden Wissens auch „Herr Pingel“ genannt, gründete er die Späldeel gemeinsam mit der Parchimer Gästeführerin Lotti Jensen. Beide fanden schnell eine ganze Reihe Mitstreiter. 15 Jahre ist das bereits her. Ein neues Theaterstück pro Jahr ist für Lotti Jensen Pflicht, die sich nebenbei auch dafür einsetzt, dass die Laienspieltruppe auch an allen möglichen anderen Orten der Region zu sehen ist.
„Wir möchten so lange machen, bis wir umfallen“, lautet einhellig die Devise der Pingelhof Späldeel, deren Mitglieder zwar allesamt rüstig, aber nicht mehr die jüngsten sind. So werden auch sie nicht müde, überall nach Nachwuchs-Schauspielern Ausschau zu halten.
Genauso wie Kerstin Zimmermann, die sich auch nach über 13 Jahren keinen besseren Job vorstellen kann – und immer wieder die Fühler ausstreckt nach einer bezahlbaren Holzkuh, die endlich ihren Platz in den alten Ställen an der Diele bekommt. Um es noch authentischer darzustellen: das bäuerliche Leben vor hunderten von Jahren. Um ihre Gäste weiterhin nachdenklich zu stimmen und den Wohlstand der heutigen Zeit mit anderen Augen zu sehen.
Infos und Angebote
Öffnungszeiten:
April - Schlachtefest im Oktober: Mi - So, 10 bis 17 Uhr
Eintritt:
Erw. 4,50 Euro, Kinder bis 14 J. 2 Euro (bei besonderen Veranstaltungen Erw. 5 Euro, Kinder 2 Euro, Parken 0,50 Euro)
Radlerrast: 1 Euro (Aufenthalt im Garten, Nutzung der Toiletten, kein Eintritt ins Museum)
Führungen und Erlebnisse:
Inszenierte Hofführung - Der Pingelhof, seine Geschichte(n), Menschen, gestern und heute: 4 Euro pro Person ab 15 Personen (50 Euro insgesamt bei weniger Personen)
Schulstunde anno 1900: 8 Euro pro Kind (Erwachsene 14,50 Euro) ab 10 Personen, dies beinhaltet: Eintritt ins Museum, (altersgerechte) Führung, eine Schulstunde anno 1900 und eine Bockwurst
Buttern mit Butterfässern: 10 Euro pro Kind (Erwachsene 16,50 Euro), ab 10 Personen, dies beinhaltet: Eintritt ins Museum, altersgerechte Führung, Buttern in Butterfässern, Verzehr der frischen Kräuterbutter mit frischem Brot, Bockwurst und einem Becher Kakao
Mädelsrunde: 16,50 Euro, für Erwachsene, dies beinhaltet: Eintritt, 2 Stücke Kuchen und Kaffee satt, Spinnen/Brettchenweben
Zusätzlich buchbar (für Gruppen und individuelle Besucher):
Aufführung der plattdeutschen Theatergruppe "Pingelhof Späldeel": 150 Euro bis 50 Personen, ab 50 Personen 3 Euro pro Person
Inbetriebnahme des alten Sägegatters, der alten Mühle, der Schmiede oder sonstiger Gerätschaften: 50 Euro pro Gerätschaft
Familienfeste, Betriebsfeiern, Klassentreffen, Projektunterricht/-tage für Kinder und Jugendliche auf Anfrage
Infos und Buchung:
Museumsleiterin Kerstin Zimmermann, Tel. 038728 20111 oder info@pingelhof-museum.de
Verwendete Quellen:
- Der Hof Pingel in Alt Damerow (Günter Ehrhardt, Thomas Helms), Edition Temmen, Bremen 1992
- www.diepingels.de
- Persönliche Notizen nach Gesprächen mit Kerstin Zimmermann, Wolfried Pätzold, Carsten und Karin Schwarz
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